mike's persönliches archiv

Istanbul (2005)

Reisebericht

Stefan Raab ist schuld. Wenigstens teilweise. Seine Sendung zum Eurovision Song Contest letztes Jahr machte mir bewusst, wie sehr ich Istanbul vermisste. Ich war 1999 zum letzten Mal dort gewesen, und in der Zwischenzeit war vieles passiert, in meinem eigenen Leben und in Istanbul. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren sehr an Attraktivität gewonnen. Zwar ist sie immer noch ein gewaltiger Moloch mit ebenso gewaltigen Problemen, man braucht bloss an die Energie- und Wasserversorgung, die Luftverschmutzung, den Verkehr und ähnliche Dinge zu denken, aber sie wird heute dennoch zu den "World's Most Exciting Cities" (Wallpaper Navigator, 2, 2004) gezählt und zieht längst nicht mehr bloss bildungsbeflissene Hobbybyzantinisten oder Schnäppchenjäger auf der Suche nach den billigsten Lederjacken und Lacoste-Polo-Shirts an. Istanbul ist in, und das zu Recht.

Einen Teil ihrer Attraktivität verdankt die Stadt der Verkehrsplanung und den verschiedenen Massnahmen zur Verschönerung. Dank ihrer ist es heute möglich, die Schönheit ihres historischen Erbes nicht nur zu bestaunen, sondern dies auch in relativer Ruhe zu tun, ohne sich von qualmenden, lärmenden Autos und Bussen belästigt und bedroht fühlen zu müssen. Ihr Hauptkapital ist aber nach wie vor die unvergleichliche Lage.
Mit ihren Hügeln, von denen herab man eine atemberaubende Aussicht auf die Stadt und das Meer hat, ist sie eine Wohnlage, die ihresgleichen sucht. Wer einmal von der Serailspitze gegen Norden oder von Galata aus gegen Süden und Osten geschaut hat, versteht, warum sich seit weit über 2000 Jahren hier Menschen zum Wohnen niederliessen.

Die Serailspitze und Sultanahmet, einst das Zentrum des Osmanischen Reiches, sind heute fest in der Hand der Touristen. Um die Blaue Moschee herum sind kleine, feine Hotels entstanden, die dem anspruchsvollen Individualtourismus dienen. Aus den einstigen Hippieabsteigen sind nette Unterkünfte, Shops und Restaurants geworden. Man wird zwar noch immer an allen Ecken mit "Hello my friend" angesprochen, aber wirklich lästig wird kaum mehr einer. Im Moment wirkt alles lässig und entspannt.

Wer sich an den Moscheen und Basaren der Altstadt satt gesehen hat, ist gut beraten, das Goldene Horn zu überqueren und nach Galata hinauf zu steigen. Zwischen Galataturm und Taksim pulsiert das Herz des jungen, urbanen Istanbul. Seit auf der Istiklal Caddesi keine Autos mehr fahren, sondern wieder die alte Tramvay verkehrt, hat sich diese Strasse zur Achse des Coolen entwickelt. Links und rechts der Istiklal Caddesi sind Cafés, Boutiquen, Musikclubs und andere Institutionen zeitgenössischer Urbanität wie Pilze aus dem Boden geschossen. Selbst an einem Wochentag ist eine dicht gedrängte Masse von Leuten unterwegs, und nur wenige tragen das islamische Kopftuch, sehr viele hingegen sehen aus, als hätten sie ihr Outfit gerade gestern in New York oder London eingekauft.

Zu tun gibt es vieles. Essen zum Beispiel. Das Angebot an Restaurants, Cafés und Pâtisserien mit türkischen und anderen Köstlichkeiten ist gross genug, um für beliebig lange Ferien auszureichen. Besonders erwähnt sei hier das relativ neue Galata House, in dem wir in familiärer Atmosphäre georgisch-russische Küche genossen. Vom Galata House, das wie der Name andeutet, nicht weit vom Galataturm entfernt ist, sind es nur ein paar Minuten Fussweg bis zu den Clubs und Discos von Taksim. Unser Besuch dort fiel auf einen Dienstag und beschränkte sich auf zwei Lokalitäten, das Meis und das Rush. Im Meis unterhielten Engin und Aytaç mit türkischen Pop ein überwiegend weibliches Publikum, im Rush wurde zu Houseklängen, aufgelegt vom Resident DJ des Clubs, abgetanzt. Auffällig war, wie freundlich man auch als Aussenseiter der Szene in beiden Lokalen eingelassen wurde.

Ich glaube, ich könnte Istanbul noch hundertmal besuchen und würde jedesmal etwas Neues entdecken. Dieses Mal war es die Architektur abseits der bekannten historischen Monumente. Nicht dass mir nicht vorher schon diese oder jene Besonderheit aufgefallen wäre, doch bei den Rundgängen in Alt-Istanbul und im Dreieck Galata - Cihangir - Taksim wurde mir erst jetzt bewusst, welches gewaltige Potenzial in dieser Stadt steckt - und wie wenig es bisher realisiert wurde. Damit soll niemand ein Vorwurf gemacht werden, schliesslich kostet Architektur viel Geld, Geld, das vielleicht anderswo noch viel dringender gebraucht wird. Aber trotz allem Charme, den alte Stadtviertel haben können, schmerzt es Auge und Herz, wenn man sieht, was an Bausubstanz verfällt und was in der jüngeren Vergangenheit an architektonischen Schandtaten verübt wurde. Eine der übelstend Sünden stellt wohl das grosse Parkhaus gleich neben dem deutschen Konsulat dar. In den Achtzigerjahren begonnen, wurde der riesige Betonkoloss nie fertig gestellt und verschandelt heute die Silhouette des ganzen Quartiers - besonders augenfällig vom Bosporus aus. Aber es gibt auch überall Zeichen der Hoffnung. Gerade in Cihangir, wo sich heute viele jüngere, kreative Leute niederlassen, werden Häuser, die teils um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erbaut wurden, wiederentdeckt und renoviert. Die Grundstücks- und Mietpreise steigen seit vielen Jahren stark an, doch sind sie im internationalen Vergleich noch immer billig.

Und wenn wir schon bei der Architektur sind: Die Umnutzung alter Industrie- und Hafenanlagen wie wir sie etwa aus London oder Zürich kennen, hat nun auch in Istanbul begonnen. Am Pier von Karaköy wurde Ende letzten Jahres das Istanbul Modern eröffnet, ein Museum, das ganz nach dem Vorbild der Tate Modern Gallery der zeitgenössischen Kunst gewidmet ist. Finanziert von privaten Sponsoren stellt es türkische Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts permanent aus und wird in Zukunft wechselnde Ausstellungen nationaler und internationaler Malerei, Plastik, Fotografie und Multimediakunst beherbergen. Zur Zeit ist eine Retrospektive auf das Werk des hauptsächlich in Paris schaffenden türkischen Malers Fikret Mualla (1903 - 1967) zu sehen.