Eurovision Song Contest
Am Eurovision Song Contest 2004 in Istanbul nahmen 36 Länder teil; 24 schafften es ins Finale. Siegerin wurde Ruslana aus der Ukraine mit "Wild Dances", einer perfekt inszenierten, folkloristisch angehauchten Tanznummer. Insgesamt dominierten osteuropäische Künstlerinnen und Künstler das Finale, und das Optische triumphierte über das Akustische. Der deutsche Kandidat, Max, schaffte es trotz eines guten Songs und intensiver Lobbyarbeit seines Produzenten Stefan Raab nur auf den 8. Platz.
Am Freitag hatte ich jemand versprochen, meine Stimme für Zeljko Joksimovic aus Serbien und Montenegro abzugeben - mit dem Vorbehalt, dass mir sein Lied, das ich bis dahin noch nicht kannte, auch gefallen musste. Dann, am Samstagabend war mir schon bei den ersten Takten von Lane moje klar, dass dieses Lied einer meiner Favoriten würde. Am Schluss der Sendung war es mein absoluter Favorit und ich bedauerte, dass Zeljko nicht Sieger war, allerdings mochte ich auch Ruslana aus der Ukraine den Sieg gönnen, da sie nach meiner Meinung die beste Bühnenshow geboten hatte.
Den Grand Prix Eurovision de la Chanson, oder wie die Veranstaltung jetzt heisst, Eurovision Song Contest, hatte ich in der Vergangenheit unregelmässig verfolgt - zuletzt, glaube ich, 1998 als in Birmingham Guildo Horn für Deutschland und Gunvor für die Schweiz teilnahmen. Damals gewann die transexuelle Sängerin Dana International aus Israel. 1998 sah ich mir das Finale in einem Hotel in Istanbul an, dieses Jahr hingegen waren Stefan Raab und Istanbul der Grund, warum ich mich überhaupt für die Veranstaltung interessierte. Stefan Raab hatte von Montag bis Donnerstag aus einer Location mit grandioser Aussicht auf Alt-Istanbul sein Istanbul Total gesendet und mich damit vor den Bildschirm gelockt. Zwar hatte ich letztes Jahr zur Kenntnis genommen, dass Sertap Erener den Grand Prix in Riga für die Türkei gewonnen hatte, aber erst Stefan Raab brachte mir die Tatsache, dass Istanbul der Austragungsort des diesjährigen Wettbewerbs sein würde, richtig ins Bewusstsein.
Die vier Sendungen von Istanbul Total stimmten mich auf etwas ein, das in meiner Wahrnehmung dann das ganze Finale dominieren sollte: den kulturellen Austausch zwischen Ost und West in Europa. Dass Deutschland und die Türkei ein ganz besonderes Verhältnis zueinander haben, ist unbestritten, ebenso unbestritten ist, dass türkische Kulturschaffende einen festen Platz im kulturellen Leben Deutschlands haben - wobei ich die Fernsehunterhaltung ganz selbstverständlich zum kulturellen Leben rechne. Aber so herzlich wie in der Zeit vor dem Eurovision Song Contest 2004 hatte ich dieses Verhältnis noch nie erlebt. Egal wieviel Berechnung auf Seiten Stefan Raabs, für den ja wieder einiges auf dem Spiel stand, dabei war, ich war dennoch beeindruckt von der Art, wie er das Gastgeberland hofierte und bei aller Rumblödelei im Sultanskostüm doch ganz klar durchscheinen liess, dass die Türkei und Istanbul nicht auf der Rückseite des Mondes liegen, sondern in einem Land, das kulturell nicht nur zu nehmen, sondern auch sehr viel zu geben hat.
Dass Raabs Lobbyarbeit für seinen Kandidaten Max nicht aufging, lag weder an der Qualität des Beitrags - Max lag musikalisch auf jeden Fall im oberen Viertel der Beiträge - noch an der Undankbarkeit der umworbenen Türken - sie gaben Max nur 5 Punkte -, sondern schlicht und einfach daran, dass Max mit seiner Konzentration aufs Musikalische die Bühnenshow vernachlässigte und so gegen den Strom schwamm. Anderen, zum Beispiel James Fox aus Grossbritannien, ging es ähnlich wie Max, und sie erhielten trotz guter Darbietung nur wenige Stimmen. Die ersten vier der Rangliste (Ukraine, Serbien und Montenegro, Griechenland und die Türkei) glänzten alle durch starke Shows und auch insgesamt liess sich in der besser platzierten Hälfte der Rangliste eine Dominanz des Showelements, der Kostüme und der Bewegung, feststellen.
Allein schon der Austragungsort, die Abdi-Ipekçi-Halle in Istanbul, unterstrich durch seine Gestaltung das Gewicht, das dem Visuellen bei diesem Wettbewerb zukam. Das Motto der üppigen Ausstattung lautete "Under the Same Sky" und bezog sich auf die historische Funktion Istanbuls als Ort der Begegnung der Kulturen. Die Wirkung von Raum, Licht und visueller Untermalung war überwältigend und erzeugte zeitenweise psychedelisch anmutende Effekte - wie übrigens auch gewisse Passagen der Videos, mit denen sich die Türkei zwischen den Songs selbst darstellte.
War es auf der einen Seite also das Showelement, das für die Rangfolge der Bewertungen zählte, so war es auf der anderen Seite aber auch der Nachbarschaftsbonus, dem einige Länder ihre Punktzahl verdankten. Ganz überraschend war, dass der Nachbarschaftsbonus selbst dort spielte, wo die Staaten eigentlich verfeindet sind, nämlich zwischen Serbien-Montenegro auf der einen und Bosnien-Herzegowina bzw. Albanien auf der anderen Seite.
Gerade zwei Wochen nach Inkrafttreten der Ost-Erweiterung der Europäischen Union wirkte der diesjährige Eurovision Song Contest wie ein multimediales Zeichen der neuen Wirklichkeit in Europa. Osteuropa und die Anrainer des östlichen Mittelmeeres sind alles andere als der schäbig gekleidete, ärmliche Verwandte des coolen Mittel- und Westeuropäers. Der Osten ist bunt, lebendig und von grosser kultureller Vitalität. So utopisch das im Moment vielleicht noch klingen mag, aber es besteht Hoffung, dass im neuen Europa die kulturelle Hegemonie der USA und des Angelsächsischen einmal gebrochen wird und Europäisches nicht mehr herablassend mit dem Etikett 'ethnic' oder 'folk' gekennzeichnet werden muss. Ob das Englische je als Sprache der Popmusik abdanken wird und ob dies überhaupt zu wünschen ist, sei dahin gestellt, bemerkenswert bleibt, dass gerade die zwei ersten Plätze von Songs eingenommen werden, deren erster teilweise und deren zweiter ganz in einer osteuropäischen Sprache abgefasst ist.