Ernen (2004)
Schreibseminar mit Donna Leon
Irgendwann im März blätterte ich mehr oder minder zufällig das Radio Magazin durch und entdeckte ein Inserat, das ein Schreibseminar mit Donna Leon in Ernen (Wallis, Schweiz) ankündigte. Als ich dann las, dass der Kurs in englischer Sprache abgehalten würde, gab es kein wenn und aber mehr - ich meldete mich unverzüglich an. Meinen spontanen Entschluss habe ich nicht bereut, und jetzt im Rückblick kann ich sagen: Die Woche in Ernen ist ein Highlight in meinem Jahr 2004.
Bei der Zimmerreservation gab es zunächst einige Probleme. Der Versuch, ein Zimmer per Internet zu buchen endete damit, dass ich von der Buchungsagentur eine Bestätigung und vom Hotel umgehend eine Absage bekam. Die Buchungsgebühr erhielt ich nicht zurückerstattet. Der Versuch, über die Verwandtschaft einer Bekannten etwas zu organisieren führte mich auf Umwegen dann zum Tourismusbüro in Ernen, wo ich am Telefon freundlichst bedient wurde. Anhand der mir per E-Mail zugesandten Vorschläge konnte ich endlich die Ferienwohnung buchen, die meinen Vorstellungen von Ausstattung und Preis entsprach. Wenn ich nächstes Mal im Wallis etwas buchen möchte, werde ich also gleich ans Tourismusbüro gelangen, und wenn ich wieder nach Ernen komme, werde ich mich direkt an den Vermieter von Haus 'Ahore', Anton Clausen wenden.
Bei meiner Abreise in Zürich regnete es in Strömen, was mich schon Schlimmes befürchten liess, doch im Wallis war es trocken und ab dem zweiten Tag dann auch heiter bis wolkenlos strahlend. Den Auftakt der Woche bildete der Begrüssungsapéro mit anschliessender Lesung von Donna Leon. Gleich beim Apéro wurde klar, dass deutlich mehr Leute an dem Kurs teilnahmen als erwartet, insgesamt fast 60, so dass zwei Gruppen gebildet werden mussten. Deutlich wurde auch, dass eine Mehrheit der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ausgesprochene Fans von Donna Leon waren. Die Autorin enttäuschte ihre Fans nicht und trug gut ausgewählte Textpassagen und Anekdoten witzig und lebendig vor; ihr Englisch kristallklar und wohlartikuliert, genau das, was ich mir erhofft hatte.
Mit dem Vergnügen am Zuhören war das Leitmotiv der Woche gegeben. Ohne gross nachzudenken hatte ich zur Kenntnis genommen, dass während des Schreibseminars auch Konzerte mit Barockmusik stattfinden würden, doch erst vor Ort dämmerte mir, dass das kein Zufall war, sondern Schreiben, Musik, Venedig und Donna Leon untrennbar miteinander verbunden waren. Hatte ich die Autorin bisher nur als Schriftstellerin gesehen, lernte ich sie nun von ihrer Seite als Förderin anspruchsvoller Musik, insbesondere der Opern von Händel, kennen. Mit Donna Leon kamen Le Musiche Nove und Simone Kermes nach Ernen und bescherten uns drei Konzertabende, die kaum einer je vergessen wird. Die barocke Dorfkirche von Ernen gab eine würdige Kulisse ab für Musik von Albinoni, J.S. Bach, Biber, Corelli, Galuppi, Mancini, Sammartini und allen voran Vivaldi und Händel. Zwar gab es von beiden auch Instrumentales zu hören, doch das Herausragende waren die vokalen Stücke, die Simone Kermes mit ihrer unglaublichen Stimme zu Gehör brachte. Das Publikum bedankte sich mit stehenden Ovationen. Das 'Lascia ch'io pianga' aus Händels Rinaldo, das die Sängerin nach ihrem ersten Auftritt als Zugabe sang, konnte wirklich zu Tränen rühren - dies ohne jede Ironie gesagt!
Das Wochenprogramm war so gestaltet, dass sich Literatur und Musik abwechselten und dazwischen genügend Zeit blieb, sich der Bergwelt des Wallis auszusetzen. Zwei ganztägige Ausflüge führten mich einmal durchs Binntal auf den Albrunpass und einmal über das benachbarte Fiesch zum Eggishorn und zum Aletschgletscher.
Dass Donna Leon nicht nur gut schreiben, sondern auch hervorragend unterrichten kann, durften wir Teilnehmer am Schreibseminar an drei Tagen erfahren. Thema des Seminars war der Kriminalroman, also der Teil der Literatur, in dem sich die Autorin einen Namen gemacht hat. Hier gab Donna Leon eine Einführung in seine Geschichte und stellte ihn als eine Form dar, die gewisse Regeln hat, die der Schreibende kennen muss. Diese Regeln, so Donna Leon, lernt man am besten dadurch, dass man sehr viele Kriminalromane liest. Wer genügend Krimis kennt, wird eines Tages intuitiv wissen, was passt und was nicht passt, wie Handlungen ablaufen und welche Charaktere vorkommen. Obwohl Donna Leon dem Kriminalroman allgemein und auch speziell ihrem eigenen Werk den Charakter des höheren Literarischen abspricht, sieht sie ihn doch tief verankert in der abendländischen literarischen Tradition. Auf der Leseliste der Teilnehmer stand daher auch an erster Stelle König Öipus von Sophokles, an dem Donna Leon wesentliche Elemente des Kriminalromans aufzeigte: den Mord, die Suche nach dem Täter, die Befragung von Zeugen, die Auflösung des Rätsels. Über den klassischen amerikanischen Roman Noir (Beispiel Ross MacDonalds Der Blaue Hammer) führte sie uns an den Anti-Krimi von Ruth Rendell, A Judgement in Stone, heran. Ein Anti-Krimi ist dieses Buch insofern als gleich zu Anfang in aller Deutlichkeit gesagt wird, wer wann wen und aus welchem Grund ermordet, und dadurch die übliche Suche nach dem Mörder und den Hintergründen der Tat zum blossen Appendix verkommt. Interessant waren die Bezüge zu Charles Dickens' The Bleak House, die Donna Leon aufzeigte, vor allem aber die Adaption des Stoffes durch Claude Chabrol in 'La Céremonie' (dt. Biester) von 1995. Meiner Meinung nach hat Chabrol in seinem Film die Story auf das Wesentliche reduziert, allerdings auch die Charaktere der beiden Mörderinnen verflacht.
Wie Donna Leon selbst sagt, habe sie Brunettis Ehefrau zur Dozentin für englische Literatur gemacht, um auf diesem Wege immer wieder ihre eigenen Kenntnisse und Ansichten zur englischsprachigen Literatur einfliessen lassen zu können. Im Seminar brauchte sie dazu keine Romanfigur, sondern konnte das direkt. Obwohl sie tief aus dem Fundus ihrer intimen Kenntnis der Literatur schöpfte, lies Donna Leon das Seminar nicht zur akademischen Vorlesung ausarten, sondern lockerte ihren Vortrag mit Anekdoten aus ihrem Leben in Venedig und anderswo in einer Weise auf, die das Publikum mehr als einmal zu Heiterkeitsausbrüchen provozierte. Kein Zweifel, sie ist eine begnadete Vortragende.
Nicht ganz glücklich waren die wenigen Teilnehmer, die vor allem um des eigenen Schreibens willen gekommen waren. Es wurde nur wenig über konkrete Probleme im Schreibprozess diskutiert und die eigenen Schreibübungen blieben auf eine einzige beschränkt, was angesichts der hohen Zahl der Teilnehmer nicht ganz überrascht, aber dennoch als Mangel empfunden wurde. Dem zum Trotz werden wohl alle, die ihre Übung auf Englisch abgegeben haben, den von der berühmten Autorin von Hand korrigierten und kommentierten Text voller Stolz mit nach Hause genommen haben.
Francesco Walter, der zusammen mit Donna Leon das Schreibseminar konzipiert und organisiert hat und dem an dieser Stelle höchstes Lob und aufrichtiger Dank ausgesprochen seien, hat am Ende der Woche angekündigt, 2005 werde es eine Fortsetzung geben und zwar zum Thema "Biographie und Autobiographie". Wir warten bereits jetzt auf die Ankündigung und die Möglichkeit zur Anmeldung.