Istanbul (1998)
Reisebericht
Es ist so einfach hinzukommen: Man bucht einen Städteflug, geht um 8:17 in Zürich Wiedikon auf den Zug, hebt um 10.30 in Zürich Kloten ab, steigt um 14.00 (Ortszeit = MEZ+1) in Istanbul aus, wird am Flughafen vom lokalen Touroperator eingesammelt und zum Hotel gebracht, bezieht das Zimmer und ist da.
Man ist da. In einer anderen Welt. Im Orient? Den gibt es nicht. Der ist bloss ein Märchen. Den Sultan von Istanbul haben Sie nach dem Ersten Weltkrieg ins Exil geschickt, und schon der Sultan mochte es nicht, als "Orientale" zu gelten. Zu seiner Zeit war Istanbul, oder "Konstantinopel", wie es damals noch ganz offiziell hiess, eine europäische Metropole - wenigstens aus der Sicht der Oberen Zehntausend.
Heute ist es so eine Sache mit dem Europäischsein. Die Türkei will, doch die EU will nicht. Sie bevorzugt die Osteuropäer, die sich vom Kommunismus befreit haben, und verschmäht die Türken, die während des Kalten Krieges an der Südostflanke das Sicherheitsgefühl der NATO erhöhen halfen.
Wenn man aus dem Hotel geht, könnte man als erstes auf den Gedanken kommen, der Dritte Weltkrieg hätte irgenwann schon stattgefunden und die Sowjetunion hätte gewonnen. Die Geschäfte im Viertel sind fast durchwegs auf Russisch angeschrieben, das Publikum vorwiegend Russen und Osteuropäer. Transportunternehmen versprechen rasche Fracht nach Samarra und Kazan.
Vor zehn Jahren waren hier in der Gegend um Aksaray noch die Araber in der überzahl, dazu kamen die Iraner, die vor der Islamischen Revolution ins Nachbarland geflüchtet waren. Die Iraner sind heute wohl wieder zuhause in Iran, die Araber vielleicht in vornehmere Quartiere Istanbuls gezogen. Aksaray und Laleli sind fest in russischer Hand.
Auf den Strassen und in den Geschäften kaum sichtbar, doch ebenfalls präsent sind die mitteleuropäischen Reiseveranstalter, die in den Hotels zwischen Laleli Cami and Sehzade Camii ihre Städteflieger unterbringen. Dementsprechend gibt es nicht nur ein Hotel "Moskva" und ein Hotel "Beograd", sondern auch das Hotel "Zürich" und das Hotel "Davos". Nicht zu vergleichen sind diese beiden natürlich mit dem "Swissôtel", das mit seiner hohern Fassade aus metallisierten Spiegelfenstern den Sultanspalast von Dolmabahce am Bosporus überragt und das für eine andere Klientel als die Wochenendtouristen mittleren Einkommens gebaut wurde.
Wohin nun? Man ist also da, umgeben von Russen, die alle sehr gesittet und gar nicht mafiös wirken, die man aber eigentlich nicht wahrzunehmen bereit ist, denn man hat einen Städteflug in den vermeintlichen Orient gebucht. So tritt man also den Erkundungszug an. Zu Fuss vorbei an der Universität von Istanbul, altehrwürdig, doch als Bildungsinstitut eine sehr traurige Sache, dann am Bazar, den man sich für später aufhebt, an der römischen Säule mit den Eisenringen (Çemberlitaş), an Wechselstuben ... Halt! Jetzt muss Geld gewechselt werden. Der Kurs scheint orientalischer übertreibungslust entsprungen zu sein: 1 müder Franken bringt 168'000 (in Worten hundertachtundsechzigtausen) türkische Pfund. Sechs Franken sind schon etwas über eine Million. Ein Nachtessen zu Fr. 30.- kostet demgemäss 5 Millionen. Dio mio! (Oder sollte man hier nicht besser sagen: Allahim?) Irgendwann werden wahrscheinlich die letzten drei Stellen gekappt und man rechnet mit Tausendern weiter, doch hier und heute ist es ein Kinderspiel, Multimillionär zu werden.
Von der Wechselstube ist es nur noch ein kurzes Stück Weg bis zur Hagia Sophia, einst Konstantins Kathedrale, dann Mehmets des Eroberers Moschee und nun Museum der Städteflieger. Ihr vis-à-vis die Blaue Moschee Sultan Ahmets III., die im Innern durch tiefhängende Kandelaber etwas bedrückend wirkt, vor allem aber ingfolge der ausgezogenen Touristenschuhe penetrant nach getragenen Socken riecht. (Betende Moslems waschen sich, so ist es Vorschrift, vor dem Gebet die Füsse.)
Hinter der Hagia Sophia die Hagia Irene, innen völlig entkernt und zur Tonhalle umgebaut. Dann der Palast der Osmanen, das Topkapi Sarayi. Als die Osmanen sich noch nicht als Europäer fühlten, sondern noch die Ambition hatten, Europa dem Osmanischen Reich einzugliedern, residierten sie hier, in dieser Anlage, die so gar nicht zum Bild eines Märchenpalastes passt. Doch das eher unscheinbare Äussere birgt in der Tat sagenhafte Schätze: Gold, Geschmeide, erlesenes Porzellan, Prunkgewänder der Sultane, eine Bibliothek, in der sich die erlesensten illuminierten Manuskripte zusammengefunden haben. Und auch das Spirituelle kommt nicht zu kurz: In einem eigens reservierten Teil des Palasts werden einzelne Haare aus dem Barte des Propheten als Reliquien verehrt, umringt von uralten Koranmanuskripten und Schwertern der Kalifen. Unablässig wird in diesen Kammern der Heilige Text rezitiert, von einem bärtigen, beturbanten Hoca, der in eine Art Telefonzelle aus Aluminium eingezwängt unruhig hin und her rutscht.
Vom Palast aus hat man in der einen Richtung einen wunderbaren Ausblick auf Galata und das Goldene Horn - was für ein poetischer Name für dieses trübe Gewässer - und in der anderen Richtung auf den Bosporus mit der 1973 erbauten ersten Brücke zwischen Europa und Asien.
Unschlagbar Punkto Aussicht ist allerdings die Bar des Hotels Ceylan (ehemals Sheraton), wo man nachts sein Perrier (für 2 Millionen türkische Lira) im Schein einer funkelnden Galaxie von Lichtern diesseits und jenseits des Bosporus einnehmen kann. Auch Alkoholika gibt es, die Türkei ist schliesslich weder Iran noch Saudi Arabien. In der türkischen Alltagskultur spielt, ob es nun die Islamisten gerne sehen oder nicht, der Anisschnaps namens "Raki" eine grosse Rolle. Raki trinkt man (Mann!) bevorzugt zu Fisch und zu kleinen kalten oder warmen Vorspeisen, genannt "Meze". In den Restaurants kann man sich die Mezes entweder in der Kühltheke oder auf einem Servierwagen zeigen lassen und sich diejenigen aussuchen, die einem am besten schmecken: Auberginen in Olivenöl, gefüllte Paprika, Lammleber, Paprikapaste, weisse Bohnen an Tomatensauce, grüne Bohnen in Olivenöl, Saubohnen mit Dill, Joghurt, Champignonsalat ... Die besonders Mutigen unter den Touristen lassen sich auf die exotischeren Genüsse ein: Niere, Hoden oder Hirn vom Lamm.
Nach dem Hauptgang, typischerweise ein Fleischspiess mit Reis als Beilage, noch ein süsses Dessert, etwa ein im Ofen übernbackener Reispudding, und man verlässt die Gaststätte mit dem Gefühl totaler Völle. So muss sich jener Imam gefühlt haben, kurz bevor er hinieder sank und damit der gefüllten Aubergine den Namen gab: "Imam Bayildi" (der Imam fiel in Ohnmacht).
Der zweite Tag ist dem Shopping gewidmet. Nun wird aus dem Vollen geschöpft: Teppiche, Gold, Leder, Gewürze, schamlos abenteuerlich gefälschte Miniaturmalereien, Souvenirs, Souvenirs. Die Zuhausegebliebenen werden zur Entschuldingung eines Anfalls von Kaufrausch. Ein T-Shirt für Otti, ein Gürtel für Anni, Smyrnafeigen für die Tante, eine Brosche für die Mama, eine Meerschaumpfeife für den Papa, eine Lederjacke für mich, ein Halskettchen für dich. Ort der Orgie ist der Gedeckte Bazar, in dem es früher ganz normale Waren, doch heute aufgrund der horrenden Mietzinse nur noch Luxusgüter und Touristenramsch gibt. Und wo kaufen der Türke und die Türkin ein? Klar doch, wie wir auch, in der Migros. Duttweilers Ladenkette hatte vor langer Zeit einmal den Sprung ins Ausland gewagt und war in der Türkei gelandet, wo sie Supermärkte hervorbrachte, deren Warenangebot unterdessen mit dem in der Schweiz nur noch sehr wenig gemein hat. Für TürkInnen mit Geld, viel Geld, ist die Migros ohnehin kein Objekt der Begierde. Ihr Horizont reicht weiter westlich, bis zur Mall der Neuen Welt. Stell dir vor, du bist in Istanbul, wärst aber im Moment lieber ennet dem Teich, dann gehst du einfach ins Akmerkez im Stadtteil Etiler und schon umfängt dich authentische Mall-Atmosphäre. Am Eingang wirst du weitaus schärfer kontrolliert als am Flughafen, doch drinnen ist dann alles clean und fun und es gibt einen Food Court und Bennetton und lauter schicke Kleider und Bankomaten für das viele Geld, das hier umgesetzt werden soll.
Der Wechsel zurück in die türkische Realität ist abrupt, aber nicht unbedingt unangenehm. Irgendwie erscheint einem dieses gepflegte Stückchen Nordamerika am äusseren Rande Europas ja doch "out of place". Zurück ins Hotel geht es mit dem Taxi (3.5 Millionen Lira) über die Stadtautobahn, vorbei am oberen Ende des Goldenen Horns, am Friedhof von Eyüp, wo sich einst Pierre Loti sinnierend beim Rundblick über das damals noch lieblich grüne Tal niederzulassen pflegte.
Der dritte Tag: Wenn nur das Wetter schöner wäre! Naive Gemüter meinen, Istanbul läge irgendwo in den Tropen und man bräuchte eigentlich nichts als Shorts und T-Shirts einzupacken. Das ist ein folgenschwerer Irrtum. Regnen kann es immer, zu jeder Jahreszeit, und unangenehm kühl wird es selbst im Sommer, wenn es der Wind so will. So fällt denn an diesem dritten Tag die Bosporusfahrt mit dem Dampfer hinauf nach Anadolu Kavagi zum Fischessen buchstäblich ins Wasser. Was die Fische allerdings nicht vor dem Verzehrtwerden rettet. Etwas versteckt hinter der alten Stadtmauer von Byzanz liegt im Stadtteil Kumkapi eine Gasse, die einzig und allein dem Verzehr von Meeresfrüchten aller Art gewidmet ist. Barsche, kleine Thunfische und der Kalkan, ein Plattfisch, geben die Hauptmahlzeit ab, während es als Bereicherung der Mezetafel fritierte Calamares, Muscheln, Sprotten (Hamsi) und Oktopussalat gibt. Dazu natürlich Raki - und dann eine Rechnung in zweistelliger Millionenhöhe.
Inspiriert vom geistigen Getränk - der Raki diente früher, zu Sultans Zeiten, als kultischer Trank der Bektaschi-Derwische - wagt man nun doch noch die Seefahrt, wenn auch nur auf der Kurzstrecke. Von Karaköy (Europa) geht es per Dampfer nach Kadiköy (Asien), dann per Taxi über die Bosporusbrücke und Stadtautobahn wieder zurück. Die Fahrt lässt erahnen, wie gross die Stadt ist, doch wirklich nur erahnen. Um sie zu er-fahren, muss man in west-östlicher Richtung etwa 130 Kilometer zurücklegen. Auf dieser langezogenen Fläche wohnen doppelt so viele Menschen wie in der ganzen Schweiz, vielleicht auch mehr. Die meisten von ihnen sind aus dem Osten der Türkei zugewandert und haben ihre ländliche Kultur mitgebracht. Ihnen ist das urbane, europäische Istanbul wahrscheinlich weitaus fremder als dem Städteflieger aus der Schweiz. Und sie, denen die Liveübertragung des Concours Eurovision de la Chanson samt Gunvor, Guildo und Diva am staatlichen türkischen Fernsehen TRT nichts bedeutet und die von der vielberedeten Globalisierung der Wirtschaft nur die Inflation zu spüren bekommen, sie sind das grosse Reservoir aus denen populistisch-islamistische Strömungen ihre Kraft schöpfen.
Im Hotelzimmer steht ein Fernseher. Er hat einiges zu bieten: CNN für die Globalisierung, RTL fürs Heimweh, TRT zum Weiterzappen, TV5 fürs Multikulti (Bild französisch, Ton arabisch) und etliche private türkische Sender fürs Lokalkolorit. Zum Genuss der Sitcoms reicht leider die Sprachkompetenz nicht aus, die Werbung stammt teilweise aus Deutschland und ist mit türkischem Text gedubbt ("synchronisiert" wäre sicher zuviel gesagt), doch es gibt auch massenweise Videoclips. Türkischer Pop in postmodernem Neo-Orient Style, Rap, anatolische Barden, Volkstümliches, und die offiziel verpönte, aber vom Publikum heissgeliebte Arabeskmusik in den Varianten "Klâsik" und "Tekno". So lässt sich trotz verhangenem Himmel und Unlust, das Hotel zu verlassen, doch noch etwas Orient inszenieren. Leider ist jedoch dieser Video-Orient nicht ganz so zeitlos, wie man es vom wahren Orient erwartet ("1000 Jahre, und nichts hat sich geändert"), und so weckt einen dann irgendwann der Touroperator und fährt einen zum Flugplatz, wo im Duty Free Shop noch schnell eine Flasche Raki eingekauft und ein letztes Pistache-Cornet konsumiert wird, bevor einem der Vogel Rokh (= Swissair MD-11) zurück auf die heimatlichen Bergwiesen trägt.