Alias Grace von Margaret Atwood
Im Jahre 1843 werden in einem Landhaus nahe Toronto, Kanada, der Hausherr, Thomas Kinnear, und seine Haushälterin, Nancy Montgomery, ermordet. Die mutmasslichen Täter, James McDermott und Grace Marks, haben sich über die Grenze in die USA abgesetzt, werden dort aber sehr bald von einem kanadischen Suchtrupp aufgespürt und zurück gebracht. Im Prozess gegen die beiden wird McDermott des Mordes an Thomas Kinnear und Marks der Beihilfe dazu angeklagt. Das Gericht befindet beide Angeklagte für schuldig und verurteilt sie zum Tode. Der Mord an Nancy Montgomery wird angesichts der bereits verhängten Todesstrafe nicht verhandelt, wodurch die Rolle der Grace Marks bei diesem Teil der Tat völlig ungeklärt bleib. In der ganzen englischsprachigen Welt sorgen der Mord und der Prozess für grosses Aufsehen, denn die Angeklagte ist erst 16 Jahre alt und die beiden Mordopfer hatten eine illegitime Liebesaffäre, so dass die ganze Geschichte nicht nur ein Mordfall, sondern auch eine Affäre um Sex, Eifersucht und überschrittene Klassengrenzen ist. Dank der Bemühungen ihres Anwalts, der sie als geistig zurückgeblieben und verwirrt darstellt, und Dank der intensiven Bemühungen einer Gruppe angesehener Persönlichkeiten wird das Todesurteil gegen Grace Marks in lebenslanges Zuchthaus umgewandelt. James McDermott hingegen wird öffentlich, vor den Augen einer grossen Volksmenge hingerichten. Auch nach Ende des Prozesses verliert die Gruppe der prominenten Fürsprecher das Interesse an Grace Marks nicht, sondern setzt ihre Anstrengungen fort, sie auf freien Fuss zu setzen; nach 29 Jahren schliesslich wird Grace Marks begnadigt und entlassen. Sie reist nach Neuengland, wo sich dann ihre Spur verliert.
Auf der Basis dieser historischen Tatsachen hat Margaret Atwood, der wir u.a. so grossartige Bücher wie Cat's Eye (dt.: Katzenauge), The Handmaid's Tale (dt.: Der Report der Magd, verfilmt vom Volker Schlöndorff) und The Robber Bride (dt.: Die Räuberbraut) verdanken, den Roman Alias Grace verfasst. Weite Strecken des Texts sind in der Ich-Form aus der Perspektive der Grace Marks geschrieben, die im Buch einem Artzt, Dr. Simon Jordan, ihr Leben erzählt. Dr. Jordan, ein amerikanischer Arzt, der historisch nicht belegt ist, hat von den Fürsprechern den Auftrag erhalten, ein Gutachten über Grace zu verfassen, und interessiert sich vor allem für ihre Erinnerungsfähigkeit. Im geistigen Vorfeld der Psychoanalyse angesiedelt, glaubt Dr. Jordan an die Existenz einer unbewussten Persönlichkeit, die in der Lage ist, Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse zu unterdrücken, und er hofft, dass Grace im Fluss ihres Erzählens etwas oder sogar alles von dem Verdrängten preisgeben wird. Ahnungslos lässt der Arzt sich damit auf eine Begegnung mit dem Unbewussten ein und, wie uns seit Freud und Jung nicht mehr überraschen darf, verstrickt sich dadurch auf gefährliche Weise in sein eigenes Unbewusstes und in die unbewussten Konflikte seiner Zeit. Fasziniert von Grace Marks und mit einer dominanten Mutter im Genick schlittert er ohne es recht wahrzunehmen in eine Affäre mit der Frau, bei der er während seines Aufenthalts in Kanada zur Untermiete wohnt und deren gewälttätiger, alkoholabhängiger Mann für eine Zeit lang verschwunden ist. Das Verhältnis nimmt mit der Zeit bizarre, sadomasochistische Formen an, und als unerwartet ein Lebenszeichen vom Ehemann der Vermieterin eintrifft, entsteht der Plan, diesen bei seiner Rückkehr zu erschlagen und im Garten zu verscharren. Im allerletzen Augenblick gelingt es Dr. Jordan jedoch, sich durch hastige Flucht dem unseligen Verhältnis zu entziehen und sich vor einer Bluttat zu bewahren. Er reist zunächst nach Europa, später nimmt er als Feldarzt am amerikanischen Bürgerkrieg teil und verliert infolge einer Verwundung am Kopf teilweise sein Gedächtnis.
Im Gegensatz zu Dr. Jordan durchlebt Grace während der Zeit des Erinnerns und Erzählens keine innere Krise, und die Frage, ob sie an der Ermordung der Nancy Montgomery beteiligt war oder nicht, bleibt offen. Statt der erhofften Wahrheit über die Tat zeichnet sich in ihrer Lebensgeschichte eine ganz andere, grössere Wahrheit ab: die soziale Realität, die aus den einen Herren und aus den anderen Knechte bzw. Mägde macht und die den Männern Freiheiten einräumt, die sie den Frauen vorenthält. Diese Realität ist für jemand wie Grace Marks, die aus armen Verhältnissen kommt, so bitter, dass das Leben im Zuchthaus nicht schlimmer sein kann, ja sogar eine gewisse Stabilität bietet, die draussen nicht gegeben ist. Grace erkennt und anerkennt diese Realität in einer sachlichen Art, ohne sich gegen sie aufzulehnen, aber auch ohne sich von den ideologischen Verbrämungen der Herrschenden blenden zu lassen. Die Faszination, die von ihr ausgeht, hängt mit ihrer stillen, intelligenten Art zusammen, aber auch, zumindest für den Leser / die Leserin des Buches, von dem Zugang, den sie zu einer tieferliegenden, symbolischen Ebene des Daseins hat. Auf diese Ebene führen ihre Erinnerungen an den Tod der Mutter und den Tod der geliebten Freundin und Arbeitskollegin Mary Whitney, die beide ein ganz auf ihr Geschlecht bezogenes Ende finden: Die Mutter stirbt nach zahlreichen Schwangerschaften an einem Unterleibstumor, während die junge Mary als Folge einer stümperhaft durchgeführten Abtreibung verblutet. Marys Geist wird, aber mehr soll dazu an dieser Stelle nicht verraten werden, auf der Suche nach der Wahrheit der Tat noch eine überraschende Rolle spielen; Marys Name ist auch der Aliasname, den sich Grace auf ihrer Flucht mit McDermott in die USA wählt.
Aus einer in der zeitgenössischen Presse voller lüsterner Sensationsgier ausgeschlachteten Sex and Crime-Geschichte hat Margaret Atwood mit Alias Grace einen äusserst vielschichtigen Roman gestaltet, der einerseits historisch so akkurat wie möglich zu sein versucht, andererseits aber auch genau jene Dinge aufzeigt, die dem Zeitzeugen, selbst wenn er um einen objektiven Blick bemüht ist, verborgen bleiben müssen, nämlich jene im Unbewussten wirkende symbolische Ordnung der Welt, die in gesellschaftlichen und diskursiven Formationen zwar Sinn stiftet, aber dadurch auch gleichzeitig den Blick auf die Realität selbst verstellt.
Was Margaret Atwood als wahre Meisterin ihres Faches auszeichnet, ist einmal die wunderbare poetische Sprache, die auch in ihren anderen Romanen, vor allem in Cat's Eye, die Lektüre zum Genuss macht, es ist vor allem aber die Fähigkeit, an den Klippen des Trivialen elegant vorbei zu navigieren und der Gefahr zu entgehen, den schon mehrfach gebotenen "wahren" Versionen der Mordgeschichte eine weitere, vielleicht besser recherchierte, aber nicht weniger unzureichende Version hinzu zu fügen. Eine Antwort auf die klassische Frage der Mystery Novel "who dunnit?" (wer war's?) gibt Atwood nicht, viel mehr setzt sie, so wie es Grace am Ende ihrer Erzählung tut, verschiedene Stücke zu einem Patchwork Quilt zusammen.
Margaret Atwood: Alias Grace
McClelland & Stewart, Toronto 1996 (engl.); Virago Press, London, 1997 (TB, engl.); Berlin-Verlag, Berlin 1996 (dt. von Brigitte Walitzek); Btb bei Goldmann, 1998 (TB, deutsch)