Der kleine Freund von Donna Tartt
Jemand wird ermordert, jemand anders versucht, den Mörder zu finden - die klassische Ausgangssituation des Krimialromans. Man kann Donna Tartts Roman "The Little Friend" aus dieser Perspektive als einen Kriminalroman lesen, bei dem das Opfer ein neunjähriger Junge ist und die, die seinen Mörder zu ermitteln sucht, seine jüngere Schwester. Dass das so einfach nicht aufgeht, liegt auf der Hand. Harriet, die Heldin des Buches ist noch ein Kleinkind zur Zeit des Mordes, und erst zehn Jahre später, als Zwölfjährige, macht sie sich auf, hinter das Geheimnis zu kommen, das wie ein alles erdrückender Schatten über der Familie hängt. Harriet ist jedoch kein kleiner Detektiv, der mit kindlicher Unschuld hinter die verlogene Fassade der Erwachsenenwelt dringt und das Böse entlarvt und besiegt. Harriet ist ein junges Mädchen, das in seiner eigenen Phantasiewelt lebt und die Dinge keineswegs klarer sieht als die Erwachsenen. Ohne das intellektuelle und technische Rüstzeugs eines Detektivs geht sie an eine Aufgabe heran, die ihr eigentlich gar nicht gestellt ist, und sie scheitert kläglich. Ohne es zu wollen und ohne etwas damit zu erreichen, bringt sie Leid über sich selbst und andere. Mit einer für ein Kind nicht alltäglichen Willenskraft und Beharrlichkeit setzt sie eine Folge von Ereignissen in Bewegung, die wie ein blindes und unbarmherziges Schicksal über die betroffenen Menschen hereinbrechen.
Nachdem ihr Erstlingswerk "The Secret History" von Lesern und Kritik mit Begeisterung aufgenommen worden war, wehte Donna Tartt diesmal ein ziemlich rauher Wind ins Gesicht. Viele Leser und Kritiker waren enttäuscht, im zweiten ein ganz anders geartetes Buch vorzufinden als das erste, viele waren auch mit der Handlung unzufrieden, die zunächst zur Lektüre als Kriminalroman verführt, aber dann nicht zum erwarteten Ende kommt. Die Enttäuschung der einen kann man verstehen, muss sie aber nicht teilen, im Gegenteil, wir haben schon genug "sequels" und dürfen froh sein, nicht "The Secret History II" lesen zu müssen. Was die Unzufriedenheit der anderen angeht, so erscheint diese selbst verschuldet. Wer sagt denn, dass jedes düstere Geheimnis aufzuklären ist und dass kindliche Unschuld über das Böse triumphieren muss?
Wenn wir uns nicht in die Handlung verbeissen, sondern den Roman mit der unfokussierten Aufmerksamkeit des Analytikers lesen, erschliessen sich andere Zusammenhänge als das Dreieck zwischen Täter, Opfer und Agent der Wahrheit. Der Mord, das initiale Trauma, setzt Prozesse in Gang, die schmerzhaft, aber nicht kathartisch sind, die keinen Fortschritt und keine Heilung bringen. Die Protagonisten bleiben in einer ziemlich düsteren Welt gefangen, über der kein Heilsversprechen leuchtet.
"The Little Friend" spielt im Mississippi der 1970er Jahre und weist klassische Elemente eines Südstaatenromans auf: Harriets Familie gehört zwar der alten Aristokratie an, ist aber längst auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Die Gesellschaft ist streng nach Rasse und Klasse getrennt; neben der besseren Gesellschaft treffen wir im Roman auf die "Negroes", die als Bedienstete bei eben dieser besseren Gesellschaft arbeiten, und den "White Trash", die armen, bigotten und gewaltätigen Weissen. Die psychologische Dynamik entwickelt sich vor allem aus der Spannung zwischen der Welt der besseren Bürger und dem Kosmos des White Trash. Vor allem der letztere wird mit einem beeindruckenden Reichtum an ethnographischen Details vor dem Leser ausgebreitet und lässt ein Amerika vor unserem geistigen Auge erstehen, wie wir es uns fremdartiger kaum vorstellen können. Die Welt der schwarzen Amerikaner hingegen bleibt weit im Hintergrund, wenn auch die Autorin in der Figur der Ida Rhew einen sehr anrührenden und plastisch gezeichneten Charakter erschaffen hat.
Dass die Geschichte in den 1970er Jahren spielt, fällt übrigens kaum auf. Historische Markierungspunkte werden keine gesetzt, so dass das Erzählte zeitlos wirkt und der Mechanismus der Ereignisse sich leicht als ein universelles Räderwerk des Schicksals lesen lässt. Donna Tartt schreibt aber nicht an in einem Ort ohne Geschichte. Ihr Roman ist Ende 2002 erschienen und bezieht sich, ob intendiert oder nicht, auf Ort und Zeit seines Entstehens, nämlich die USA auf dem Höhepunkt ihrer kulturellen, politischen und militärischen Macht. In der Zeit, die zwischen "The Secret History" (1992) und "The Little Friend" (2002) vergangen ist, haben die USA die Schwelle von der Republik zum Imperium überschritten. Gleichzeitig hat aber auch die religiöse Rechte, deren Fussvolk von der Welt sehr wenig weiss und von einer bizarren Bibelgläubigkeit geprägt ist, so deutlich wie nie zuvor den Anspruch auf die Macht angemeldet. Donna Tartt beleuchtet jenes beunruhigende Amerika, das Michael Moore so erfolgreich ins Lächerliche zieht, aus einem völlig anderen Winkel als jener, aber es erscheint uns Aussenstehenden deswegen kein bisschen sympathischer.
Donna Tartt: The Little Friend
Knopf, New York 2002 (engl.); Bloomsbury, London, 2003 (TB, engl.); Der kleine Freund (dt. von Rainer Schmidt) Goldmann Wilhelm, München 2003