«Wolf Hall» lesen
Die Vorzüge des Buches sind anderweitig ausgiebig gelobt worden, und die Autorin hat verdienterweise mehrere Auszeichnungen, darunter den Man Booker Preis 2009, erhalten. Der Aussage des Vorsitzenden des Preiskomitees, James Naughtie, es handle sich um einen "zeitgenössischen Roman, einen modernen Roman, der [nur] zufälligerweise im 16. Jahrhundert spielt", kann ich uneingeschränkt zustimmen und auch die schöne Chatrakterisierung im Guardian als "non-frothy historical novel" unterschreibe ich ohne Vorbehalt.
As soon as I opened the book I was gripped. I read it almost non-stop. When I did have to put it down, I was full of regret the story was over, a regret I still feel.
Vanora Bennett
Es geht mir hier nicht um eine Buchbesprechung, sondern um ein paar Gedanken zu der Art und Weise, wie ich das Buch gelesen habe. Irgendwann im Vorfeld der Verleihung des Man Booker Preises habe ich zum ersten Mal von «Wolf Hall» gehört und mir vorgenommen, es gelegentlich näher anzusehen. Dann bekam ich ein Exemplar geschenkt und fühlte mich moralisch verpflichtet, es zumindest anzulesen. Beim Anlesen blieb es aber nicht, sondern ich habe alle 653 Seiten der Taschenbuchausgabe gelesen. Die Lektüre war nicht immer ganz einfach, vor allem wenn die Hauptfigur, Thomas Cromwell, nur mit 'he' bezeichnet wurde und man sehr gut aufpassen musste, um ihn nicht mit anderen, auf die 'he' ebensogut gepasst hätte, zu verwechseln. Nach einer Eingewöhnungsphase las sich das Buch jedoch sehr flüssig. Vielleicht ging es mir nicht ganz so wie der Rezensentin der Times, Vanora Bennett, die schrieb: "... as soon as I opened the book I was gripped. I read it almost non-stop. When I did have to put it down, I was full of regret the story was over, a regret I still feel." Doch das klassische Leseerlebnis der Immersion, des Untertauchens im Text, stellte sich auch bei mir ein. Der Roman hatte damit sein Ziel als Roman erreicht.
◊ Vom Buch zum Film und wieder zurück
Doch so ganz allein schaffte er das nicht. «Wolf Hall» erwies sich nämlich als Ergänzung, Verlagerung und Vertiefung einer Rezeption englischer Geschichte, die sich bei mir unmittelbar davor im Medium Film angebahnt hatte: Ich meine die beiden Elizabeth-Verfilmungen (1998 und 2007) mit Cate Blanchett in der Hauptrolle, das Shakespeare-Drama «Richard III» mit Ian McKellen (1995) und - natürlich - die Fernsehserie «The Tudors» (Seasons 1 und 2, 2008). Elisabeth I. (1533 – 1603) lag zeitlich nach «Wolf Hall» und Richard III. (1452 – 1485) lag zeitlich davor, während Season 2 der «Tudors» recht genau in das Zeitfenster fällt, das «Wolf Hall» öffnet, nämlich die Jahre 1527 bis 1535.
Hier könnte man nun endlos über die Unterschiede zwischen Roman und Film als Erzählmedium sinnieren. Doch dazu nur soviel: Das Buch, besonders der Text von Hilary Mantel, scheint mir zeitloser, vielleicht neutraler oder transparenter zu sein. Es legt nicht so eine dicke Schicht von Kostümierung und Stilisierung über die Geschichte. Und es ist vielleicht nicht so schamlos in seinen Zugeständnissen an den zeitgenössischen Geschmack wie der Film: Die beiden Elizabeth-Filme treiben die Stilisierung der autokratischen, mit harter Hand regierenden Monarchin als madonnenhaft-überirdische "Virgin Queen" extrem weit, und bei den Tudors der Fernsehserie feiern zwischen den herzzerreissenden Dramen sehr zeitgenössisch wirkende junge Leute sehr zeitgenössisch wirkende Parties. Am ehrlichsten kommt die Verfilmung von «Richard III» daher. Sie gibt nicht vor, die historische Wirklichkeit der Untaten des Plantagenet-Prinzen abzubilden, sondern erzählt die Geschichte einer Machtergreifung in Bildern einer faschistischen Ästhetik und transponiert das Shakespeare'sche Drama ins Grossbritannien des 20. Jahrhunderts - ein Drama übringens, das zur Zeit Elisabeths I. mit durchaus politischer Zielsetzung verfasst wurde und das den Verlierer der Rosenkriege als körperlich missgestaltetes wie moralisch verkommenes Zerrbild des historischen Königs Richard III. darstellt, um dadurch das Haus Tudor in noch grösserem Glanz erstrahlen zu lassen.
◊ Politische Bezüge
«Wolf Hall» ist zweifellos auch nicht völlig unpolitisch, denn seine Hauptfigur, Thomas Cromwell, wurde bis anhin als Bösewicht begriffen, wenn auch nicht als einer von der Statur eines Shakespeare-Königs, während der Mann, den Cromwell aufs Schafott brachte, Thomas More, aufgrund ebendieses Martyriums heilig gesprochen wurde. Hilary Mantel polt dieses Verhältnis beinahe um: Der heilige Thomas wird zum Ketzerverfolger, der ohne Mitleid brave Protestanten brennen lässt, und Cromwell erscheint als ein Mann, der tut, was ein Mann eben tun muss, um sich und seine Familie samt Gesinde durch die Fährnisse der Zeit zu bringen. Wie aktuell die ganze Geschichte noch ist, zeigte sich übrigens jüngst beim Besuch von Papst Benedikt XVI. in England: Er durfte als erster Papst in der Geschichte im britischen Parlament sprechen - und schon im zweiten Absatz seiner Rede fiel der Name Thomas More: "As I speak to you in this historic setting, I think of the countless men and women ... In particular, I recall the figure of Saint Thomas More, the great English scholar and statesman..." An genau der Stätte, an der Thomas 1535 auf Betreiben Cromwells der Prozess gemacht wurde, knüpfte der Papst an Mores moralisches Dilemma an und sprach über das Verhältnis von Religion und Politik.
◊ Ein Knoten im Netzwerk
All diese Querbezüge sind äusserst spannend, und Mantels Roman bildet in dem Geflecht von Geschichte und Geschichten, Texten und Bildern, nur einen von vielen Knoten. Womit wir beim Netz wären: Als jemand, der tagsüber unter der Woche einem nichtakademischen Beruf nachgeht und der keine wissenschaftliche Bibliothek zu Hand hat, gibt es für mich praktisch nur einen Weg, mich vertieft mit dem Stoff des Buches auseinanderzusetzen: Google und Wikipedia. Hier finde ich mit wenigen Mausklicks die Portraits von Cromwell, More, Heinrich VIII., Elisabeth I., Richard III. usw.usf. Hier finde ich den ganzen Text von "Richard III" ebenso wie Youtube-Videos mit Szenen aus verschiedenen Aufführungen des Stücks. Hier finde ich Schriften von Thomas More genauso wie den Wortlaut der Rede des Papstes vor dem britischen Parlament. Wenn ich möchte, kann ich mir einen Überblick über die Dynastie der Tudors verschaffen oder mich anhand der Wikipedia mit den britischen Adelstiteln vertraut machen. Und wenn ich viel Zeit habe, kann ich mich in die Geschichte der Reformation in England einlesen und mir Gedanken darüber machen, was die Unterschiede zwischen Protestantismus, Anglikanismus und Katholizismus sind.
Gehe ich vom Buch aus, sind die visuellen Medien und all die Informationen, die ich aus dem Internet beziehen kann, eine Anreicherung. Die Geschichte wird voller und plastischer, die Beziehungen unter den Figuren des Romans werden leichter durchschaubar. Gebe ich aber dem Buch keinen privilegierten Platz im Zentrum, dann habe ich es mit einem offenen Geflecht von intertextuellen Bezügen zu tun, das sich im Moment gerade an der mit «Tudors» markierten Stelle verdichtet, das aber weiter hinaus und zeitlich weiter zurück reicht, etwa zum Film «The Goodbye Girl» (1977), in dem Richard Dreyfuss einen Schauspieler mimt, der «Richard III» als Tunte verkaufen soll, oder zur Geschichte der Mary Boleyn («The Other Boleyn Girl», Roman und Film), der von der Geschichtsschreibung mehr oder weniger übergangenen Schwester der zweiten Frau Heinrichs VIII.
◊ Mein Fazit
Auch wenn ich ganz traditionell ein Buch in die Hand nehme, lese ich es heute anders als ich das noch in meiner Jugend getan hätte. Eine multimediale Anreicherung des Gelesenen auf elektronischem Weg ist stets in unmittelbarer Reichweite, neuerdings sogar auf dem Mobiltelefon, das mich direkt auf Google, Youtube und Wikipedia zugreifen lässt. Das bedeutet eine gewaltige Ausdehnung des Horizonts der Lektüre, zieht aber auch Schwierigkeiten bei der Konzentration nach sich; allzu leicht lässt man sich ablenken. Es liegt in der Verantwortung des Lesers hier den optimalen Pfad zu finden.